Letzter Tag: Erholung und Abreise

Motto des Tages: „Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht immer noch schneller als der, der ohne Ziel herumirrt.“ 
(Gotthold Ephraim Lessing)

 

Heute ist der erste Tag nach meiner Wanderung und mein Körper zeigt mir wie sehr er sich an die Routine gewöhnt hat: Ich wollte länger schlafen, wache aber doch pünktlich zwei Minuten vor 7:00 auf. Beim Frühstück ertappe ich mich dabei nach einem Vesperpaket fragen zu wollen. Meine Beine und Füße sind ganz überrascht, als ich zwar wieder die Wanderschuhe anziehe, aber keine Etappe auf sie wartet.

Denn heute laufe ich nicht mehr los.

Stattdessen verbringe ich einen entspannten Vormittag in Weil am Rhein und Basel, und verabschiede mich beim Frühstück von der Letzten meiner Mitwandererinnen, die ebenfalls in meinem Hotel untergebracht ist. Noch einmal lassen wir unsere Erlebnisse Revue passieren und unterhalten uns über andere Mitwanderer und fragen uns wie es ihnen ergangen ist.

Auch schmieden wir Pläne für die Zukunft. Jeder hat andere Ideen. Vielleicht eine Wanderung in den Alpen? Oder mit Schneeschuhen? Oder irgendwo in Meeresnähe, vielleicht Kreta oder Korsika? Eine Wanderung mit Blick auf das Meer. Das klingt unheimlich verlockend für mich.

Wie ich mich fühle? Ein Mischung aus Wehmut, Stolz und Gelassenheit. Wehmut, weil der Weg und seine einzigartige Erfahrung zuende ist, Stolz, da ich es trotz aller Hindernisse geschafft habe die Tour zu beenden und eine Gelassenheit, die sich ganz tief in mir ausgebreitet hat. Ich hoffe sie bleibt mir eine Weile erhalten.

Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich innerhalb eines Tages so weit wandern würde, dass beim Zurückblicken der Start im Dunst der Entfernung verschwindet. Buchstäblich „über den Horizont und weiter“.

Später im Zug ziehen nun die Höhenzüge in wenigen Sekunden an mir vorbei, die ich mit so viel Mühen bestiegen habe. Aber es sind keine unbekannten Hügel mehr, sondern gute, alte Bekannte geworden: Blauen, Belchen, Feldberg, Hornisgrinde. Ich kenne sie nun alle und ich kenne sie gut.

Schweiß habe ich auf ihnen gelassen und mich manches Mal gefragt warum ich das alles mache. Eine echte Antwort habe ich bis heute nicht gefunden, aber ich spüre, dass es gut war.

Wenn ich die Augen schließe rieche ich die Wildblumen der Hochmoore und spüre die scharfkantigen Steine der Wanderwege unter meinen Füßen, ich fühle die heiße Sonne auf meiner Haut und den kalten Wind in meinem Nacken. Doch ich erkenne auch, dass diese Eindrücke schon jetzt zu verblassen beginnen.

Was mir auffällt? Ich bin deutlich empfindlicher für die verschiedenen Gerüche geworden, die mich umgeben: Parfümierte Menschen rieche ich schon aus großer Entfernung, am Bahnhof rieche ich den Güterzug, der imprägnierte Holzschwellen geladen hat, noch bevor er richtig in den Bahnhof eingefahren ist und die Sonnenmilch, die ein Rentner aufgetragen hat der auf der Bank in einigen Metern Entfernung sitzt, nehme ich wahr als stünde direkt er neben mir.

Auch Entfernungen schätze ich anders ein. Wenn ich eine Anhöhe sehe, dann berechne ich unbewusst, wie lange es dauert zu Fuß bis oben hinaufzusteigen. Eine Wanderung von 20 Kilometern kam mir vorher als der Gipfel einer Tageswanderung vor, nun zählt eine solche Etappe zu den kürzeren. Überhaupt beurteile ich eine Etappe kaum noch nach Entfernung, sondern eher nach überwundenen Höhenmetern und Zeitangaben.

Auto und Bahn sind mir zu schnell geworden. Und zu oberflächlich. Ebenso die vielen Menschen, die hektisch ihren Aufgaben nachjagen. Wie wenig Zeit wir uns doch nehmen einfach mal stehen zu bleiben und den Augenblick wahrzunehmen. So eilt das Leben an uns vorbei und wir haben es gar nicht gesehen. Doch was ist eine WhatsApp-Nachricht verglichen mit einem handgeschriebenen Brief? Quantität zerstört die Qualität. Ich beginne zu verstehen, warum sich immer mehr Menschen leer und unbefriedigt fühlen, obwohl man heutzutage in wenigen Stunden an jeden Ort dieser Welt gelangen oder innerhalb von Sekunden jedem Menschen auf dieser Erde eine Information schicken kann.

Meine Bilanz? Fast 300 Kilometer, fast 10.000 Höhenmeter, 13 Etappen, vier Blasen, wundgescheuerte Schultern, schmerzende Fußknochen, eine beginnende Sehnscheidenentzündung in der Ferse, eine verlorene Zahnfüllung und die Erkenntnis, dass ich trotz Schmerzen und Widerständen in der Lage bin eine Aufgabe zu Ende zu bringen. Das schafft Selbstvertrauen und eine Selbstzufriedenheit, die mit Worten nicht zu beschreiben ist.

Körper und Geist haben eine neue Einheit gebildet. Der Körper weiß, dass der Verstand nicht Unmögliches verlangt und der Geist hat gelernt, dass er dem Körper Pausen und Erholung zugestehen muss. Beide haben erkannt, dass sie zusammen auch Aufgaben schaffen können, die anfangs als zu groß erscheinen.

Was bleibt? Ich bin nicht sicher. Die Zeit wird es wohl zeigen. Ich will nicht zu viel erwarten. Genauso, wie ich zu Beginn meiner Wanderung nicht zu viele Erwartungen an meine Reise gestellt habe. Man darf sicherlich keine Wunder erhoffen. Der Weg heilt nicht „tiefe Wunden“ und verändert auch nicht „von Grund auf“. Aber er hat mich definitiv beeindruckt.

Was bleibt? Dankbarkeit!

Danke Westweg!

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